Das Glanzstoffstudio in Wuppertal professionalisiert seit zwei Jahren Menschen mit Handicap für Bühnen, Film und Fernsehen.
Von: Ayşe Kalmaz
Probenbeginn mit Warm-Ups. Ein professionelles Kamerateam macht sich bereit zum Dokumentieren. Insgesamt zwölf Teilnehmer*innen laufen durch den Raum oder sind mit dem Rollstuhl oder einem Rollator unterwegs. Sie feuern sich gegenseitig an und spielen Schnick-Schnack-Schnuck. Es folgt der Auftakt vom künstlerischen Leiter Bardia Rousta und es wird still im Raum. „Geht eure Szenen durch: Wo seid ihr? Was macht ihr?“ Die Musik setzt ein. Schauspieler*innen betreten von beiden Seiten die Bühne und laufen fokussiert durch den Raum. Während Gudrun, 60 Jahre, das rituelle islamische Gebet „Salat“ betet, spielt eine weitere Schauspielerin eine unsichtbare Gitarre. Ein anderer Schauspieler spricht seinen Text mit einem Spickzettel „Wo ist mein Klavier?“ und man hört „Warum hast Du so große Zähne?“, während Flora, ca. 25 Jahre, in den Raum ruft: „Wie lange dauerte der Dreißigjährige Krieg?“ Dann alles in doppelter Geschwindigkeit, anschließend die ganze Szene rückwärts. „Versucht eure eigene Dynamik zu finden“, ruft Rousta in den Raum. Es geht weiter in die nächste Runde der Probe, die mit dem nüchternen Feedback von Flora endet: „Hat gut geklappt, war nur sehr anstrengend.“
Dienstag, der 18. Juni, 12 Uhr im Schauspielstudio Glanzstoff in Wuppertal. Das Studio wurde vor zwei Jahren gegründet. Alles begann damit, als Merlin Roemer sagte: „Ich möchte Schauspieler werden.“ Merlin war damals Mitglied des inklusiven Ensembles der Akademie der inklusiven Künste e.V. Da es für Merlin als Mensch mit Trisomie 21 keine Schauspielschule gab, die eine professionelle Ausbildung hätte bieten können, entstand die Idee für ein Schauspielstudio, in dem Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung für die Arbeit auf der Bühne, in Film und Fernsehen professionalisiert werden können.
Wie professionell die Arbeit im Schauspielstudio ist und wie viel Erfahrung die Gruppe mittlerweile gesammelt hat, lässt sich auch bei der nächsten Übung beobachten. Nach einer Feedback-Runde mit viel Spaß und Selbstreflexion geht es weiter mit einer Assoziationskette. Die Übung dauert etwa 20 Minuten, die angehenden Schauspieler*innen sind in ihrer Merkfähigkeit gefordert. Eine sehr lange Kette von Wörtern folgt, die mit dem Wort „Gummi-Ente“ beginnt. Als die Wortfolge mit dem Wort „Arschlecken“ endet und Flora kommentiert, „es war ein polynesisches Chaos“, gibt es großes Gelächter. Anschließend werden alle Wörter in ein Impro-Spiel eingebaut: Es entsteht eine sehr eindrucksvolle Szene, in der alles „aus dem polynesischen Chaos” seinen Platz findet. Auch hier wird deutlich, wie viel Übung die Spieler*innen haben und wie groß die Vertrautheit innerhalb der Gruppe ist, wie viel Vertrauen in die gemeinsame Arbeit besteht.
Das Studio wird in Kooperation mit den Wuppertaler Bühnen betrieben und ist für die Dauer von fünf Semestern konzipiert. Die Spieler*innen sind jetzt bereits im letzten Semester. Geprobt wird an zwei Werktagen in der Woche, in jedem Semester gibt es einen neuen inhaltlichen Schwerpunkt. Namhafte Vertreter*innen der Branche wie Thomas Braus, Intendant des Schauspiel Wuppertal und Anna Wehsarg vom Ensemble Pina Bausch, sind dabei in die Ausbildung eingebunden. Darüber hinaus wird ein Tag in der Woche für eine Inszenierung geprobt, die in den Spielplan der Wuppertaler Bühnen aufgenommen wird.
Die erste Premiere des Schauspielstudios Glanzstoff fand im Januar 2018 statt mit dem Stück „Hier kommt keiner durch“ im Theater am Engelsgarten in Wuppertal, gefolgt von „Die Ballade vom Seiltänzer Felix Seiltänzer“ im Juli 2018. Im Dezember 2018 gab es die letzte Premiere von der Inszenierung „Der kleine schwarze Fisch“, es folgten Gastspiele in Bochum, Wermelskirchen und Borken. In Zusammenarbeit mit dem Medienprojekt Wuppertal wurde außerdem der Film „Ich auch“ gedreht und in verschiedenen Kinos u.a. in Berlin und Köln gezeigt. Als nächste Premiere ist das Stück „Mir nach“ für den 12. Juli 2019 im Theater im Engelsgarten in Wuppertal geplant.
Gecastet wurde damals im Juli 2017 nach folgendem Prinzip: 45 Teilnehmer*innen sprachen mit Texten vor, die sie selbst vorbereitetet hatten; insgesamt 13 Personen wurden angenommen. „Ich machte vorher schon Rollstuhltanzen, als ich den Aufruf zum Casting in der Lokalpresse las”, sagt Gudrun. Diana, ca. 50 Jahre, beschreibt weiter: „Ich habe über Facebook davon erfahren, da habe ich eine Mail geschrieben. Das Vorsprechen war nicht so einfach, da ich zuerst bei einer Logopädin Sprechen und Atmung lernen musste. Ich habe mir den Text ausgedruckt und in jeder freien Minute, selbst beim Busfahren, gelernt. Aber beim Vorsprechen war ich nicht aufgeregt, hatte ja nichts zu verlieren, sondern nur zu gewinnen. Als ich von der Schauspielschule hörte, war ich so froh, auch darüber dass ich überhaupt mitmachen durfte. Bei der ersten Premiere war ich sehr nervös, das war schlimm” sagt sie mit einem Lächeln.
Die Herausforderungen formulieren alle für sich selbst sehr unterschiedlich. Für Gudrun ist es die Hitze: „Wenn es heiß ist, dann auf die Bühne, dann die Scheinwerfer – das ist total schlimm für mich.“ Flora beschreibt, dass sie das Lachen auf Knopfdruck schwierig findet: „Es ist zu künstlich.“ Für Nora, Mitte 40, ist die persönliche Grenze das langsame Spielen: „Wir sind ja auch hier, um unsere Grenzen auszutesten und auch um etwas über uns selbst zu erfahren“, stellt sie fest. Sie fügt hinzu: „Ich habe mich darüber gewundert, wie viel ich mir merken kann und wie viel Zuspruch ich bekomme. Auch die Kritik hat mein Selbstbewusstsein gestärkt.“ Sie formuliert auch, dass viele Zuschauer*innen überrascht sind, wie viel sie leisten können: „Viele nehmen das Handicap nicht mehr wahr“, sagt sie. „Ja“, ergänzt Flora, „nicht nur die Zuschauer! Wenn ich auf der Bühne bin, dann vergesse ich alles. Ich spiele Fisch und nicht Fisch mit Rollstuhl.“
Auf die Frage, wo es hingehen soll in der Zukunft, antwortet Diana: „Hollywood“ und alle lachen. Nora: „Jeder hier hat eine Einschränkung und das Theater gibt so viel. Ich habe soziale Depressionen, und für mich ist es schön, vor die Tür zu gehen, hier Leute zu treffen, die toll sind und gemeinsam ein Ziel zu erreichen.“ Für André, 30 Jahre, ist es das Lernen und der Unterricht an sich und die Weiterentwicklung. Gudrun ist froh darüber, dass sie „als Behinderte der gesunden Gesellschaft etwas zurückgeben kann. Sonst brauchst Du immer was von den anderen, so gibst du was“. Und Diana trifft den Nagel auf den Kopf, indem sie sagt: „Es ist auch traurig, dass man überhaupt außerhalb ist.“
Merle, ca. 25 Jahre alt, hört bald bei Glanzstoff auf, da sie eine Ausbildung als Ergotherapeutin beginnt. Was sie für sich mitnimmt, ist, aufgeschlossen gegenüber anderen zu sein und Gefühle wie Ärger offen auszuleben. Das Schlusswort für unsere Runde gibt Nora: „Wir sind ja auch cool!“
Auf die Frage an Bardia Rousta, weshalb das Projekt aus seiner Sicht wichtig sei, antwortet er sehr klar: Damit diese Frage nie wieder gestellt werde. Damit es selbstverständlich werde, dass Menschen mit Handicaps Theater machen. Rousta ist überzeugt, dass es leider erst diese Zwischenschritte wie das Glanzstoffstudio braucht, damit Theater einmal selbstverständlich inklusiv sein kann. „Ideal wäre, dass wir als Studio irgendwann nicht mehr gebraucht werden.“
In Zukunft wollen sich die Akademie der inklusive Künste e.V. und das Glanzstoff Schauspielstudio bald verbünden. Das Ziel ist eine dreijährige Ausbildung für die Teilnehmer*innen. Gemeinsamer Unterricht mit Schüler*innen von anderen Schauspielschulen soll folgen. „Eine klassische Ausbildung mit Bewegungsunterricht, Improvisation, den Grundlagen Bewegen, Spielen, Theatergeschichte und Theorie – alles was es in einer professionellen Schauspielschule gibt“, so Rousta. Die Teilnehmer*innen werden während der dreijährigen Ausbildung, die in diesem Oktober beginnt, auch in Produktionen des Schauspiel Wuppertal eingesetzt. Im Juli 2019 beginnen die Vorsprechen. Drei bis vier Teilnehmer*innen von Glanzstoff starten jetzt bereits mit Proben für das Stück „Draußen vor der Tür“. Geprobt wird an mehreren Tagen in der Woche, bevor sich am 6. Januar 2020 der Vorhang zur inklusiven Premiere im Schauspiel Wuppertal hebt.
Finanziert wird das Projekt zur Hälfte von Spendengeldern und Fördermitteln. Die größten Geldgeber sind Aktion Mensch und der Lions Club. Einige Förderanträge werden nicht bewilligt werden, so Rousta. Er vermutet, dass in diesen Fällen davon ausgegangen wird, dass es sich eher um ein Hobby statt um professionelle Arbeit handelt. Nach den intensiven drei Stunden bei Glanzstoff ist klar, dass die Arbeit hier alles andere als ein Hobby ist. Ein wegweisendes Projekt, das ein wichtiges Zeichen setzt, „damit das Theater selbstverständlich inklusiv werden kann“.
Original Article: https://www.kiwit.org/kultur-oeffnet-welten/positionen/position_13312.html